Wie alles begann ....
Eigentlich liegt das, was ich "meine Fotografie" nennen würde, inzwischen auf einer vergleichbaren Ebene mit der Lebensrückschau, die in der Regel von Menschen ab einem bestimmten Alter angestellt wird. Denn es kommt mir tatsächlich so vor, als habe mein bewusstes Dasein erst wirklich eingesetzt, seitdem ich mit den Augen gewissermaßen eine Neugeburt erfahren habe. Um genau zu sein, will ich auch gleich den Zeitpunkt dafür angeben (schon für mich selbst): Es war der Sommer 1994.
Natürlich hatte es schon einige spürbare Einschnitte bzw. Ereignisse gegeben, jedoch eben auf "Etagen", wonach es mit den Täglichkeiten des Lebens immer wie sonst auch üblich weiterging. Aber dann, wie gesagt 1994, nach Anfang des Ruhestands, den ich in Frankreich begann, geschah etwas, das mich total umpolte und sämtliche neuen Tagesprobleme beiseite schieben ließ.
Ich m u s s das kurz schildern:
Allein und deprimiert durch die anscheinend aussichtslose Suche nach einem neuen Zuhause saß ich einmal an einem sonnigen Nachmittag draußen im Freien auf einer Wiese, neben mir eine alte Mauer aus Natursteinen. Ich war ein wenig eingenickt, als irgendein Geräusch mich aufschreckte und dabei mein Blick zufällig die Richtung hin zur Mauer einschlug, wo ein altes Stück Holz zusammen mit einem Fetzen Stoff lose herumhing. Soweit die optische Situation; irgend etwas störte mich jedoch, so dass ich
etwas genauer hinsah und dann fasziniert an den Zügen und dem menschlichen Ausdruck eines Gesichts hängen blieb. Kein Zweifel, dass ich es tatsächlich mit einem Gesicht zu tun hatte, das mich da in aller Stille und Selbstverständlichkeit betrachtete. Ein längeres Verweilen aber gab leider die Zeit nicht her, jemand kam des Weges, ich war abgelenkt und danach hatte sich das Ganze mit seinem hypnotischen Charme ins Neutral-Materielle zurückgezogen, oder hatte einfach ganz plötzlich die Sensibilität meines Sehens einen Knacks bekommen?
Aber Knacks hin, Knacks her - eine ganz neue Welt war vor mir aufgegangen: Sie hatte sich in einem Bruchteil von Zeit vorgestellt und war dann wieder in ihre Verborgenheit zurückgetaucht. Ähnlich wie bei einem Vexierkasten. Was war eigentlich passiert?
Ich verfiel ins Sinnieren und dachte dabei auch an Michelangelo, der über seine Arbeit als Bildhauer einmal gesagt hat: "Die Figur war schon in dem rohen Stein drin, ich musste nur noch alles Überflüssige wegschlagen - Gott schläft im Stein."
Es mag eine Binsenweisheit sein, wenn man einfach so auf die Tatsache gestoßen wird, dass es eben nicht möglich ist, alles zu sehen, was man vor sich erblickt - so hatte sich nun dank meinem Holzerlebnis der Gedanke in den Vordergrund geschoben, dass unser "Verständnis", unsere Aufnahme der Umwelt immer zuerst einmal festgelegt ist von der überkommenen Gleichung "dingliche Welt = tote Welt". Ist im Grunde ja auch begreiflich; schließlich kann nicht jeder die Augen eines Gärtners, eines Fotografen oder das Wissen eines Kernphysikers haben - oder die Muße eines Rentners ....
Letzteres traf damals auf mich zu, und ich ging - verblüfft, wie ich es ja war - pedantisch ans Werk. Ich spazierte nicht mehr an der "Welt" vorbei, sondern blieb alle paar Meter stehen und sah mir die Dinge ganz aus der Nähe an: Baumrinden, Felsbrocken, glitzernde Pfützen, allerhand Herumliegendes auf Baustellen, bröckelnde Mauern, überhaupt viel kaputtes Zeug überall, wobei mir immer bewusster in die Augen fiel, welch gegenstandsverändernde Rollen Licht und Schatten spielten, und wie Dinge "als Versammlung ihres Erscheinungspielraums", wie Martin Heidegger es ausdrückt, Beziehungen untereinander herstellen und sich ( wenn man als Betrachter Geduld hat zu
schauen) eine ganz neue Art von harmonischen Zuordnungen herausbilden. Ein anderer Philosoph, nämlich Heraklit, hat von "Umwendungen" gesprochen - ich klaue das Wort hier mal , weil es auch für "Bewegung" steht. Und genau das ist unser Problem mit dem "Wahrnehmen" : Mit dem einseitigen Zugehen unseres Ego auf "X" ist es ja nicht getan; auch "X " w i l l mit s e i n e r Erscheinung, seinem eigenen Wesen auf u n s zugehen. Bleibt dies jedoch aus, so bleibt es im Verborgenen und ist halt nur gerade mal erblickt worden. Man könnte solch einen präamputierten Vorgang auch bezeichnen als "Banalität" des Sehens.
Vielleicht rührt das aber auch von der im modernen Menschen eingewurzelten Selbstbestimmtheit her, die es ungern dazu kommen lässt, sich als ein Mitgied der Umwelt respekt- oder besser ein wenig liebevoll zu verhalten. Klar, es mangelt halt
einfach an der Erkenntnis, wie furchtbar klein wir sind - gemessen am globalen Wirken um uns herum von Molekülen, Atomen, Quanten, Photonen, und überhaupt von all diesen "Teilchen", mit denen uns ja in Wirklichkeit eine unglaublich tiefe Verwandtschaft verbindet.
PS:
Ich möchte allen denjenigen, die jetzt daran gehen, einige der Fotos zu betrachten, nahelegen, dabei einen gewissen Abstand einzuhalten, sagen wir etwa eine Armlänge. Danke!
Das fotografische Konzept
Spontanes Sehen, verbunden mit dem Zusammenfließen von Wieder-Erkennen und Neu-Erleben – das ist es, was diese Fotografie dem Betrachter suggerieren möchte. Ebenso könnte man sagen, sie möchte Erinnerungen wecken an Mögliches oder auch an virtuell Bekanntes.
Thema ist das menschliche GESICHT, vorgefunden in den verschiedensten Erscheinungsweisen: als Fragment, als Karikatur, als quasi in ihrer Eigenheit surrealistisch verfremdete Form von Existenz – eben einer Form von Existenz, die wir nicht oder nicht mehr für wert erachten, um sie im gewohnten Umfeld unserer Wahrnehmungstätigkeiten eine Rolle spielen zu lassen. Zwar ist solch unbewusstes Wegkapseln und Nichtsehen an sich ein radikaler Vorgang, aber er kann ja auch wieder rückgängig gemacht werden, wofür die hier vorgestellte Fotografie ein mögliches Hilfsmittel ist. Voraussetzung sind nur etwas Ruhe und die Bereitschaft, die Umgebung mit Fantasie abzutasten; dann kommt eine unendliche Zahl von „objets trouvés“ auf einen zu.
Hieraus ergibt sich – dies muss vor allem betont werden – das rigorose Postulat, dass das primäre Seh-Erlebnis authentisch an spätere Betrachterinnen und Betrachter weitergereicht wird, sodass auch diese sich in die echte Rolle des Reproduzierenden versetzt sehen. Das heißt also: Keine digitalen Tricks oder sonstigen Manipulationen!
Das Ganze ist ein Akt gegen unsere durch lange Gewöhnung eingeübten Prozesse der Wahrnehmung, ein Plädoyer dafür, mit der Matrize unseres optischen Erfassens, Unterscheidens und Bewertens ein wenig „Gymnastik“ zu üben und in den Fotografien spielerisch herumzuwandern. Dabei werden die üblichen ästhetischen Kriterien von Schön und Hässlich zurücktreten und Raum geben für ein eigenes, unvorein- genommenes und freies Gestalten.
Vor dieser Fotografie sollte man sich stets dessen bewusst sein, dass es sich um nichts von außen Gestaltetes oder „kreativ Erfundenes“ handelt, sondern um reale Exzerpte unserer Umwelt – zugänglich für jeden, der sich Zeit zum Sehen nimmt. Und letztlich ergibt dieses Sehen im selben Augenblick die Belebung von etwas an sich Leblosem. Es eröffnet sich am Ende mit dieser „optischen Archäologie“ eine ganz bestimmte Art von Dialog zwischen Bild und Betrachter.
Eigeltingen, Sommer 2010
Noch ein paar Worte zu dieser Sichtweise und ihrer fotografischen Umsetzung:
EIGENTLICH ist es jedem sehenden Menschen geläufig – nämlich das Erlebnis, zum Beispiel in einer Wolkenformation, einem Steinbrocken, einer Tapete oder einem Stück Baumrinde ganz unvermittelt eine bestimmte Figur zu entdecken. Oft sind es nur eher vage Andeutungen von Umrissen eines Körpers, die dann aber sogleich durch einen spontanen Akt der Fantasie ergänzt und als Bild vervollkommnet werden. Anders ausgedrückt: Die gesehene Form ruft im selben Vollzug Erinnerung wach und wird umgekehrt von dieser bereitwillig „adoptiert“. Man hat dann den bekannten „Schau-mal-da-ist...“-Effekt. Für diese impulsive Art und Weise der Übertragung einer reinen Vorstellung oder Ein-Bildung herüber in die Welt der Wirklichkeiten gibt es übrigens in der Psychologie den Begriff „Pareidolie“ (griech: eidolon, Gestalt, Bild, Trugbild).
Halten wir davon zunächst zweierlei fest:
-
Jeder Mensch erfährt das beschriebene Phänomen irgendwann einmal, mit unterschiedlicher Häufigkeit.
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In der Natur der Sache liegt begründet, dass es sich - vom Einzelnen her betrachtet – um einen im Wesentlichen passiven Vorgang handelt, um ein Überrascht werden.
Nun, beim Betrachten der oben abgebildeten Fotografien wird deutlich, dass diese keine Beispiele für das Phänomen von Pareidolie sind, sondern vielmehr strikt authentische Aufnahmen von etwas, das zuvor genauso gesehen worden war und dann aus seinem größeren Umfeld herausgefiltert wurde.
Hier sei eine kurze gedankliche Präzisierung erlaubt, obwohl die Zusammenhänge an sich ja notorisch sind: Je nach Alter, Geschlecht, Beruf, Temperament und kulturellem Hintergrund ist die allgemeine wie spezifische Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen variationsreich ausgebildet, aber auch konditioniert; denn die zahllosen Nötigungen im Alltag stellen eine einzige geballte Zuchteinrichtung dar, gerade für das Auge. Für das, was man sehen soll, sehen muss - in verfügbarer Zeit - wird der Einzelne immer stärker eingegrenzt und bevormundet, ohne sich natürlich dessen bewusst zu werden.
Einer der Beweggründe für die hier vorgestellte, seit über 16 Jahren betriebene (ab und zu vielleicht sogar übertriebene?) Fotografie war es darum, die Betrachter ein wenig daran zu erinnern, dass es in ihrem unmittelbaren Nahbereich so unendlich viel Faszinierendes zu entdecken gibt! Stellt man sich mal vor, wir hätten Zeigefinger eingebaut in unsere Augen und sie würden frech-emanzipiert rücksichtslos auf Dinge hinzeigen, die normalerweise total außerhalb unserer gewohnten Wahrnehmungs- bereitschaft liegen. Sie würden uns Flächen, Nischen, Halb-Verborgenes, in Auflösung oder Zerfall Begriffenes, reg- und leblos erscheinende Körper aus Natur oder Dingwelt finden lassen, kurz: Objekte, die einfach zufällig so miteinander in Kontakt gekommen sind. Lange sind sie tatsächlich reg- und leblos, bis plötzlich - unter der Regie von Licht und Schatten – aus ihnen selbst heraus eine Art Persönlichkeit entsteht, etwas, das uns anschaut: lächelnd, kauzig, ärgerlich, böse, schlau, drohend, einfach „echte“ Gesichter mitten aus dem vorherigen „Chaos“ heraus. Etwas hat sich da „selbst organisiert“, und es blickt uns so an, dass wir zurückblicken. Es gibt einen Dialog, und da ist dann Leben!
Wir erzeugen also in der Tat ein „Wesen“, das uns zugewandt ist und auf seine Art zu uns „spricht“, allein als Folge davon, dass wir nicht vorbeigegangen sind, dass wir unseren Augenzeigefinger aktiviert haben und dass Licht/Schatten für die Geburt günstig standen. Oft natürlich sind es leider je nach den Umständen kurzlebige Wesen.
Jemand hat mal gefragt: Schauen sie uns an oder wir sie? Nun, wir sind ja klug und gebildet; wir wissen vom inneren Besitz eines Bildgewebes, eines Archetypus’ „Gesicht“, an dem unsere Erinnerung sich entlang tasten kann und dessen Führung es erlaubt, dass wir aus einem gegebenen Chaos bedeutungsvolle Strukturen herausfiltern. Damit dies aber passiert, damit es funkt, müssen noch andere Komponenten zusammenkommen, nicht zuletzt eben ein befreites, unverwirrtes Auge, das vom anvisierten objet trouvé im gelungenen Fall die Meldung zurück bekommt: “Kunst gefunden!“ Das zentrale Motiv mag mit seinem Charakter und seinen Konturen entweder abgelöst und isoliert erfasst sein, oder es kann immer noch eingebettet bleiben in ein quasi sich anschmiegendes Umfeld.
Mit dem Fotoapparat als Werkzeug so auf Pirsch zu gehen führt gewissermaßen zu einem bewussten Pareidolieren. Auch hat es, wie ein Kommentator meinte, eine gewisse Verwandtschaft mit den Mühen und Freuden der Archäologie.
Eine letzte Bemerkung noch: Irgendwelche Art der Manipulation vor bzw. nach der fotografischen Realisierung, d.h. auch jede Form digital-elektronischer Bearbeitung würde eine komplette Verfälschung des Ganzen bedeuten und bleibt hier vollkommen ausgeschlossen.